Das Kult-Gefängnis

Kult, Freibeuter der Liga, Freudenhaus – diese Plattitüden kann am Millerntor echt keiner mehr hören oder lesen. Gemeint sind sie als Sympathiebekundungen der Medien, die unseren Verein als Spaßfaktor und bunten Tupfen in der vergleichsweise tristen Bundesligawelt inszenieren wollen. Ursprung dieser ganzen Etiketten ist ja die Vergangenheit unseres Vereins und deren mediale Wahrnehmung anläßlich der Erfolge Ende der 80er Jahre, 1986 ging es in die zweite und 1988 in die erste Bundesliga – und dabei präsentierte sich ein gänzlich anderer Fußballverein, der durch eine sich von anderen Clubs erheblich abweichende und unterschiedliche Fankultur auszeichnete. Die Nähe zur Reeperbahn, die baufälligen Tribühnen, das alles andere als moderne Vereinsheim nebst Spielerkabinen, die bunt-fröhlichen Fans – all das führte in der öffentlichen Wahrnehmung und mit der den Medien innewohnenden Kraft der schubladenbildenden Berichterstattung zu den genannten Etiketten des Vereins. Der FC St. Pauli und seine Fans ist aber viel mehr als das Klischee von einst, nämlich lebendig und vor allem eines: viel zu facettenreich für eine der vielen Schubladen, die die Medien so gerne öffnen. Und auch gemocht werden müssen wir auf diese Weise nicht – wobei niemand daran gehindert zu werden braucht, aber bitte nicht nur aus dem Grund, weil die Medien es für „chic“ erachten…

Nach dem Aufstieg in die erste Bundesliga stehen die Reporter wieder einmal Schlange für einen Bericht um den Club am Millerntor und Stani muß nahezu unendliche Interviews mit immer wieder auftauchenden Vorurteilen über sich ergehen lassen – siehe auch den Artikel in der MoPo dazu. http://www.mopo.de/2010/20100730/sport/stpauli/die_krux_mit_dem_kult.html. Sicherlich ein Unding, wenn sich die Medien vor einem Interview so wenig informieren, daß sie mit den uralten Klischees ausgestattet in das Gespräch hineingehen und damit unsinnige Fragen stellen. Aber an sich ist es ja schön, wenn über das neue Medieninteresse (in diesem Ausmaß) die alten Etiketten vielleicht endlich mal neu überdacht werden – Stanis Antworten könnten dies jedenfalls bewirken.

Der Verein ist eine Klasse für sich – nach wie vor – aber eben nicht das, was er mal vor 20 Jahren war. Und das ist kein Nachteil, sondern Notwendigkeit des Lebens, fortlaufende Veränderung eben. Das Millerntor wird – auch wenn es weh tut – umgebaut und an die Anforderungen des modernen Fußballs angepaßt. Ohne entsprechende Sitzplatzanzahl auf Einzelsitzen – Bänken zählen da nicht – gibt es eben keine Zulassung in Liga 1 und auch in Liga 2 mehr. Auch die Hilfstribühnen müssen früher oder später weichen, da sie kein Zustand auf Dauer (nicht nur Jahre, auch Jahrzehnte seien bedacht) sein können – und einen Zusammenbruch mit Verletzten oder gar schlimmeren Unfällen will ja nun wirklich keiner.

Ob die Veränderung wirklich in der Form sein müssen, wie sie nun erfolgt sind und erfolgen werden, all das ist Aufgabe der lebendigen Fankultur unseres Vereins, nämlich die Aufgabe der kritischen Begleitung und Hinterfragung. Gerade in Sachen Vermarktung und Sitzplätze sehe ich da einiges an Nachjustirungsbedarf, denn all die Businesseats auf der Süd und der neuen Haupt sind zahlenmäßig derart hoch gegriffen, daß ich einfach nicht weiß, ob sich dies auf Dauer wirklich mit zahlungskräftigen Besuchern wird auffüllen lassen – ganz unabhängig von der Frage, ob sich der Verein auf diese Art der Finanzbeschaffung in dieser Intensität wirklich hätte eingehen müssen. Hier ist ein Erbe von Corny Littmann, welches in Zukunft eventuell noch Probleme bereiten könnte – aber dies wird abzuwarten sein. Und eben beobachtet und kritisch immer wieder neu auf den Prüfstand gebracht sein. Ich persönlich hätte nichts dagegen, wenn Teile dieser Sitzplätze bei fehlender Auslastung einfach umgebaut und dem normalen Fan zur Verfügung gestellt werden würde (dürfte ja nicht so schwierig werden, eine Zugangsbeschränkung zum VIP-Bereich am Rande der Sitzgruppe einzurichten).

Der Verein entwickelt sich in den letzten Jahren in meinen Augen aber sehr positiv – was auch wieder in weiten Teilen zumindest auch ein Verdienst von Littmann ist. Aber nicht nur, insbesondere Stani dürfen wir hier im sportlichen Bereich nun wirklich nicht vergessen – und auch er ist nur ein Nam von vielen, die ich hier gar nicht alle aufzählen möchte. Der FC St. Pauli gibt in den letzten Jahren insgesamt ein sehr gutes Bild ab und es ist aus diesem Grund ja eigentlich auch kein Zufall, daß der Wiederaufstieg in die Belle Etage des Deutschen Fußballs gelungen ist.

Noch nicht gelungen wurde aber die Veränderung in den Köpfen der Medien und auch der vielen Fußballinteressierten in Deutschland, die sich größtenteils nur über die 1. Bundesliga und eben die Berichterstattung der Medien über die Vereine und damit auch den FC St. Pauli informieren. Wir waren eben lange nicht mehr in Liga 1, da muß man bei vielen quasi auch da ansetzen, wo wir aus deren Wahrnehmung verschwanden – und das ist eben nahezu ein Jahrzehnt her und auch damals schon waren die Klischees bereits weitesgehend überholt, in jedem Fall aber ausgelutscht gewesen.

Unsere Fankultur hat – mit Sicherheit nicht allein, aber eben auch durch das positive Beispiel mitwirkend – vieles im Fußball in Deutschland verändert. Wo noch in den 80ern Rechtsradikale in den Stadien so gängig wie Gewalt war und nur sehr wenige Frauen und Kinder sich in die Stadien trauten, da pilgerten zu unserem Verein derart viele Frauen und auch Familienväter mit ihren Kleinen, daß außenstehende Dritte sich bei diesem Anblick und der friedlichen Partystimmung die Augen reiben mußten. Auch die öffentliche Bekennung gegen rechts und gegen Anfeindungen gegen Schwule machte Schule, wenn auch noch nicht so deutlich wie das Vorgenannte. Zumindest in der ersten Bundesliga geht es seit Jahren weitesgehend friedlich zu, so daß sich seit langem schon Frauenj und Kinder auch in großer Anzahl in die Deutschen Stadien trauen. Diese Vergangenheit und die Rolle unseres Vereins dabei ist aber noch in vielen Köpfen – und Grund für Sympathien, die man teilweise kaum noch erklären kann.

Ich brauche keine Sympathie dafür, dass ein ganzes Stadion gegen Nazis ist. Das sollte selbstverständlich sein. Alles andere ist ein unerträglicher Status Quo.

wird in einem sehr lesenswerten Spiegelartikel zum Thema St. Pauli und gängige Sympathie-Klischees treffend geschrieben. Quelle: http://www.spiegel.de/sport/fussball/0,1518,694227,00.html.

Unsere Fans und unser Verein steht für viel mehr als das, was manche Außenstehende damit verbinden. Schon immer haben wir Fans es verstanden, auf amüsante Weise ironisch mit den Klischees umzugehen und etwaige Vorwürfe gekonnt zu unserem Vorteil einzusetzen – da muß man wirklich nicht allein auf das Zeckenlied (auf besondere Nachfrage hier der Text: „…Wir sind Zecken – asoziale Zecken – schlafen unter Brücken – oder in der Bahnhofsmission…“) verweisen. Die Frage aber stellt sich, wie wir in Zukunft damit umgehen wollen, daß uns so viele Leute für etwas mögen wollen, was wir so gesehen eigentlich schon lange nicht mehr sind – oder anders und als Frage formuliert, wollen wir uns wirklich in das „Kult“-Gefängnis einsperren lassen, nur damit andere ihre heile Fußball-Welt haben?

Vielleicht erübrigt sich das Thema ja auch ganz von alleine im Laufe der Saison, wenn die Fußballwelt wieder auf unseren Verein blickt und feststellt, daß das Millerntor nach wie vor aufregend und sehr lebendig ist – nur eben ein wenig anders, als sie alle es sich vorgestellt haben. Das Klischee ist doch eigentlich schon lange tot – es lebe St. Pauli!